Handelszeitung Special - Die smarte Simplifizierung 44/2019
SBB Intelligente Fokussierung in der Marktbearbeitung ist der Erfolgsschlüssel in deren komplexer Welt.
Neue Angebote, neue Züge, Erweiterungen des Streckennetzes und dichtere Fahrpläne sind die Antwort auf die steigende Mobilitätsnachfrage. Doch die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ist zwischen Berufs- und Freizeitverkehr ungleichmässig verteilt. Während mehr als die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer mit dem ÖV zur Arbeit fährt, bevorzugen viele Reisende für einen Ausflug am Wochenende das Auto. Das wollen die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) ändern und fördern gezielt Freizeitreisen mit der Bahn in der Schweiz.
Die komplexe Welt der SBB
Erfahrungsgemäss managen Unternehmen heute rasch weit über hundert Touchpoints entlang der Customer Journey. Im Zeitalter der Digitalisierung eine All-in-Strategie zu verfolgen und an allen Kontaktpunkten präsent sein zu wollen, ist nicht nur eine Sisyphusarbeit, sondern angesichts der immer knapper werdenden Budgets kaum noch zu bewerkstelligen.
Daher erstaunt es nicht, dass zentrale Fragen bei vielen Unternehmen lähmende Unsicherheit auslösen: Setzen wir wirklich auf die richtigen analogen und digitalen Touchpoints? Gingen wesentliche Touchpoints vergessen? Haben wir ausreichend Budgets alloziert, damit wir überhaupt bei der Zielgruppe wahrgenommen und in Betracht gezogen werden? Mit Blick auf eine effiziente und effektive Marktbearbeitung zeigen neuste Studien das Ausmass der Herausforderung: Es ist die Rede von bis zu 70 Prozent Streuverlust in der Marktbearbeitung.
Reto Meissner, Leiter Marketing-Kommunikation SBB Personenverkehr: «Unseren Kunden zur richtigen Zeit relevanten Inhalt über die am besten geeigneten Kanäle respektive Touchpoints zu liefern, ist eine der zentralen Herausforderungen in unserer Marktbearbeitung. Die Erkenntnisse aus unserem Touchpoint-Management helfen uns, den Kundenfokus faktenbasiert zu stärken, die Effizienz zu erhöhen und einen grossen Schritt von der Komplexität zur Einfachheit zu machen.» Neben der Komplexität des digitalen Zeitalters werden die SBB mit weiteren Herausforderungen konfrontiert:
Betriebliche Komplexität: Täglich transportieren die SBB 1,26 Millionen Menschen – was etwa 15 Prozent der Schweizer Bevölkerung entspricht. Grosse Zahlen sind es auch in der Marktbearbeitung: Rund 300 Massnahmen werden im Personenverkehr pro Jahr geplant und umgesetzt.
Customer Journey: Der Reise- und Tourismusmarkt gehört bei der Digitalisierung zu den Vorreitern. Schon vor Jahren krempelten disruptive Innovationen und neue Mitbewerber den Markt um. Doch der Reise- und Tourismusmarkt ist nicht ausschliesslich digital. Die Customer Journeys können sich je nach Zielgruppe oder Thema stark voneinander unterscheiden, was die Komplexität wesentlich erhöht.
Zielgruppen: Jeder Reisende hat seine ganz persönlichen Bedürfnisse nach Komfort, fairen Preisen, Erholung und Erlebnissen. Um ihren Kunden ein optimales Gesamterlebnis zu vermitteln, orientieren sich die SBB an unterschiedlichen Kundensegmenten.
Zur Bewältigung dieser Herausforderungen setzen die SBB auf ein ganzheitliches und messbares Touchpoint-Management, das alle Phasen der Customer Journey berücksichtigt.
Ganzheitliches Touchpoint-Management
Ziel eines ganzheitlichen Touchpoint-Managements im Allgemeinen ist die Fokussierung auf die Kunden. Wesentlich hierbei ist die empirische und systematische Bewertung der Touchpoints entlang der Customer Journey. Kunden kommen auf ihrer persönlichen Customer Journey mit den unterschiedlichsten Touchpoints in Berührung; das Spektrum reicht vom Plakat über den Webshop bis hin zum persönlichen Beratungsgespräch.
Unter dem Gesichtspunkt einer möglichst effektiven und effizienten Ausgestaltung des Touchpoint-Managements hinterfragt das interdisziplinäre Marketingführungsteam im Personenverkehr der SBB systematisch Strategien und Kampagnen.
Markus Kalt, Projektleiter Marketing SBB Personenverkehr: «Digitalisierung, Automatisierung und Personalisierung sind für uns in der Marktbearbeitung Alltagsarbeiten. Um Technikvorteile in Markterfolg übersetzen zu können, müssen alle Mitarbeitenden ein vertieftes und einheitliches Kundenverständnis besitzen. Nur so gelingt es, unsere Kunden mit relevanten Angeboten gezielt anzusprechen und zu begeistern.»
Nachvollziehbarerweise reicht eine erfahrungsbasierte Beurteilung bei dieser Komplexität nicht aus. Eine valide Faktenbasis ist eine Grundvoraussetzung. Diese faktenbasierte Bewertungsgrundlage setzt sich aus den folgenden Punkten zusammen:
Aussenperspektive: Eine echte Outside-in-Perspektive einnehmen. Dies ermöglicht eine Kundenzentrierung über die Denkhaltung hinaus, und die Marktbearbeitungsmassnahmen für Vertrieb und Kommunikation können ausdifferenziert werden.
Ganzheitlichkeit: Die Customer Journey verläuft nicht geradlinig und in der Regel auch nicht ausschliesslich digital oder analog. Ein ganzheitlicher Blick auf die Touchpoints der Kunden hilft dabei, sich nicht in Silos zu verlieren. Eine Reduktion auf Werbung hätte zur Folge, dass viele relevante Touchpoints wie beispielsweise die Betreuung durch Mitarbeitende der SBB oder Informationstafeln nicht berücksichtigen würden.
Messbarkeit: Das allseits bekannte Bonmot von Peter Drucker «If you can’t measure it, you can’t improve it» unterstreicht die Wichtigkeit von datengestützter Analyse und Planung. Erst durch die ganzheitliche Messbarkeit der Kampagnenwirkung wird die Erfolgssteuerung in der Omnichannel-Welt überhaupt möglich.
Vernetzung: Wir sind in einer hochvernetzten Welt. Erstaunlicherweise beurteilen viele Unternehmen die Wirkung von Massnahmen nach wie vor ausschliesslich isoliert. Fehlende Beurteilungskriterien machen Strategie und Kampagnen zu einem Patchwork an Einzelmassnahmen. Was es also braucht, ist eine überschaubare Darstellung der wichtigsten Touchpoints pro Zielgruppe und Phase in der Customer Journey.
Smarte Simplifizierung wirkt positiv
Konkrete Antworten auf spezifische Fragen erhöhen nicht nur die Entscheidungssicherheit, sondern optimieren auch die Kundenzentrierung. Die Erkenntnisse über die wichtigsten analogen und digitalen Touchpoints ermöglichen den SBB, den Kunden das Reisen zu erleichtern, die Kundenzufriedenheit zu steigern und damit die Kunden für weitere Reisen zu gewinnen. Dank der algorithmusbasierten Lösung können die SBB nun noch besser für jedes Kundensegment den richtigen Inhalt am richtigen Ort kommunizieren. Streuverluste lassen sich so minimieren und die Effizienz in der Marktbearbeitung kann gesteigert werden.
Damit die erwähnte Kundenorientierung keine Worthülse blieb, mussten die Erkenntnisse aus den gewonnenen Daten bei den Mitarbeitenden verankert werden. Dazu wurden den Marketingmitarbeitenden bei Trainings die gewonnenen Erkenntnisse und konkreten Umsetzungsstrategien vorgestellt – damit sie daraus einen direkten Nutzen für ihre Arbeit ziehen können.
Drei Schritte
Der Weg zum optimalen Touchpoint-Mix
- In einem ersten Schritt wird eine Auswahl der Touchpoints getroffen. Je nach gestecktem Ziel werden andere Touchpoints relevant. Grundsätzlich macht aber eine Fokussierung auf jene Touchpoints Sinn, die auch durch das Unternehmen gesteuert werden können. Schwierig beeinflussbare Touchpoints wie etwa die Empfehlung von Freunden werden somit nicht berücksichtigt.
- Im zweiten Schritt wird jene Zielgruppe ausgewählt, für die der optimale Touchpoint-Mix berechnet werden soll.
- In einem letzten Schritt wird die Gewichtung der unterschiedlichen Phasen der Customer Journey festgelegt. Will man beispielsweise die Bekanntheit einer Marke erhöhen, wird der optimale Mix mit einer stärkeren Gewichtung der Phasen zu Beginn der Customer Journey ermittelt.
Erkenntnisse: Im Wissen, dass die optimale Lösung via Algorithmus nicht immer eins zu eins im Geschäftsalltag umgesetzt werden kann, sind solche Erkenntnisse für die Erfolgssteuerung eines Unternehmens äusserst relevant.
Algorithmus
Eine Blackbox?
Darwinismus Um zeiteffizient die beste Lösung auf die Frage nach dem optimalen Touchpoint-Mix zu erhalten, werden genetische Algorithmen eingesetzt. Sie können aus einer sehr grossen Zahl möglicher Lösungen die beste ermitteln. Ihre Funktionsweise basiert auf dem darwinistischen Evolutionsprinzip. Die Ausgangslage ist eine Population bestehend aus mehreren Genotypen. Jeder Genotyp ist eine zufällig generierte Variante eines Touchpoint-Mixes. Im Sinne von «survival of the Fittest» wird durch Selektion sichergestellt, dass die folgende zweite Generation eine mindestens genauso gute Modellgüte aufweist oder sogar noch besser an die Herausforderungen angepasst ist. Von Generation zu Generation werden so neue Mixe generiert, verglichen und verbessert,
bis der optimale Mix steht.
Erfolgssteuerung Berücksichtigt werden jeweils die vom Unternehmen bereits genutzten als auch nicht genutzten Touchpoints. Keine einfache Aufgabe, wenn man bedenkt, dass es allein bei achtzig Touchpoints bereits 10 hoch 24 Kombinationsmöglichkeiten gibt. Am Ende aber kann beispielsweise das Verhältnis von analogen und digitalen Touchpoints gemessen und festgestellt werden, wie die Touchpoints im Hinblick auf die Kategorien Owned, Paid, Earned abschneiden. Strategien und Kampagnen werden so mess- und vergleichbar. Viel wichtiger noch: Erfolgssteuerung wird möglich.
Fünf Phasen
Operationalisierung der Touchpoints
Wirkungsmessung Die Werte der fünf Phasen Awareness, Consideration, Exploration, Purchase und Bonding liefern Aussagen zur Wirkung einzelner Touchpoints und zu Touchpoint-Mixes. So haben einzelne Touchpoints beispielsweise eine passive (Operationalisierung der Awareness-Phase) und eine aktive Reichweite (Operationalisierung der Phase 2), während für einen Mix die Total Audience (kombinierte Reichweite) in Prozent berechnet wird. Dies entspricht dem Anteil Personen, der mit einem oder mehreren Touchpoints des Mixes in Kontakt kommt – passiv oder aktiv. In den Phasen 3 bis 5 kommen der Informations-, der Transaktions- und der Attraktivitätswert zum Tragen. Diese Werte zwischen 0 und 100 werden je als Durchschnittswerte angegeben. Sie bilden den Relevanzaspekt eines oder mehrerer Touchpoints ab.

Accelerom Team
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